Letzte Rettung für IVD-Hersteller (von Mag. Marie Salin)
Artikel 110 der IVDR als letzte Rettung für IVD-Hersteller – Oder wieso viele Hersteller jetzt noch schnell viele Produkte nach der IVD Richtlinie 98/79 in Verkehr bringen
Gastkommentar von Mag. Marie Salin
Wenn man sich auf der NANDO Website umschaut und den Status der Benannten Stellen (Notified Bodies) überprüft, läuft es einem ein bisschen kalt den Rücken runter. Ja, weniger als ein Jahr vor Gültigkeit der IVDR ab Mai 2022 sind bis dato nicht einmal fünf Benannte Stellen akkreditiert (wenn man die DEKRA nur einmal zählt), nämlich BSI, Dekra Deutschland und Dekra Netherlands, TÜV Süd sowie TÜV Rheinland.
Seit der ersten Benennung von BSI als Benannte Stelle für IVDR (mit der Kennnummer 0086) im Jänner 2019 hat sich augenscheinlich nicht wirklich viel getan. Man darf es sagen, die Lage ist bizarr.
Von 16 Anträgen wurden 12 Assessment Reports erstellt. Nach Corona bedingter Pause ist erst im Juni 2021 mit der DEKRA Certification B. V. eine fünfte benannte dazu gekommen. Die On-Site Assessments sind aufgrund der Corona-Pandemie nur sehr schleppend vorangekommen. MDC hatte sein Joint Assessment schon, QMD steht noch in der Warteschlange.
Für die Wirtschaftsakteure ist der Stand der eigenen Benannten Stelle im Zweifel nicht ersichtlich, da das Verfahren ausgesprochen intransparent ist.
Man nimmt an, dass fast 80% der In-Vitro Diagnostika nach den Vorgaben der IVDD (98/79) als „Sonstige In-Vitro Diagnostika“ nach Anhang III in Selbst-Konformitätserklärung auf den Markt gebracht worden sind. Das bedeutet eine große Flaschenhals-Problematik für viele Hersteller, die nun plötzlich Ihre Produkte über eine Überprüfung einer Benannten Stelle auf den Markt bringen müssen.
Das heißt die IVD-Hersteller könnten – sollten Sie noch keinen Vertrag mit einer der fünf Benannten Stellen haben – langsam, aber sicher in Panik geraten.
Erfahrungsgemäß kommt erschwerend hinzu, dass viele von den fünf Benannten Stellen keine alleinige Zertifizierung nach ISO 13485 ohne Überprüfung der technischen Dokumentation nach IVDR vornehmen. Für Unternehmen, deren Produkte noch nicht auf dem Markt sind oder nicht zur sofortigen Marktfreigabe bereit sind, kann das zum Problem werden.
Nichtsdestotrotz beinhaltet die IVDR eine Teillösung, die eine wichtige Unterstützung für die kontinuierliche Bereitstellung von kritischen Produkten insbesondere in Zeiten einer Pandemie bildet.
Genau sprechen wir vom Artikel 110 wie folgt:
(4) Produkte, die vor dem 26. Mai 2022 gemäß der Richtlinie 98/79/EG rechtmäßig in Verkehr gebracht wurden sowie Produkte, die ab dem 26. Mai 2022 aufgrund einer Bescheinigung gemäß Absatz 2 Unterabsatz 2 des vorliegenden Artikels in Verkehr gebracht wurden, können bis zum 27. Mai 2025 weiter auf dem Markt bereitgestellt oder in Betrieb genommen werden.
Dieser Teil der IVDR wird oft als „Abverkaufs-Regel“ bezeichnet. Man muss hier genau die Unterschiede zwischen den Begriffen beachten:
- In Verkehr Bringen von einzelnen Produkte bedeutet, wenn die Ware die Produktionsstätte des Herstellers verlässt, und ist auf Einzelstück- bzw. Chargenbasis zu verstehen,
- Bereitstellen bedeutet vom Lager des Händlers zum Beispiel an den Endverbraucher zu verkaufen,
- In Betrieb nehmen ist es, wenn der Endverbraucher das Produkt tatsächlich einsetzt und verwendet.
In Verkehr bringen ist bis 25.05.2022 erlaubt. Bereitstellen und in Betrieb nehmen ist bis 25.05.2025 erlaubt.
Dies mag auch einer der Gründe sein, wieso viele Hersteller jetzt noch in letzter Minute ihre Produkte als „Sonstige IVDs“ nach der IVD Richtlinie in Verkehr bringen.
Auf Lager kann man ja immer noch produzieren …
Mag. Marie Salin ist Managing Director bei West Medica Produktions- und Handels-GmbH – erfahrene Regulatory Expertin für IVD, Beraterin, Trainerin und zertifizierte interne Auditorin.